Meine Mutter starb beim „Ringelpietz mit Anfassen“ im Kreise alter Menschen. Das wäre vermutlich ihr Kommentar gewesen, wenn sie noch die Gelegenheit dazu gehabt hätte.
Zum Zeitpunkt ihres Todes befand sie sich auf der Pflegestation eines Seniorenwohnheims. Bis vor kurzem hatte sie noch ihr eigenes Appartement bewohnt. Doch nach einem Sturz und wegen zunehmender Demenz hatte sie dorthin umziehen müssen, weil sie sich allein nicht mehr versorgen konnte.
Ich bin sehr dankbar, dass sie kurz vor ihrem 93. Geburtstag und nach nur zwei Monaten Aufenthalt auf der Pflegestation dieses Leben verlassen durfte. Denn es wäre für uns beide schwer aushaltbar gewesen, wenn sie weiter und weiter dieser alters- und krankheitsbedingten Hilflosigkeit anheimgefallen wäre.
Meine Mutter war Zeit ihres Lebens eine Frau, die ihr Ding gemacht hat, unabhängig von fremder Hilfe oder anderen Meinungen. In ihren klaren Momenten hat sie sehr deutlich gesagt, was sie von ihrer Situation hielt: gar nichts. „Ach Sabine, die schieben mich hier im Rollstuhl herum, als könnte ich nicht selbst laufen. Und dann diese Essenszeiten! Ich habe doch so früh noch gar keinen Hunger.“ Diese und ähnliche Klagen bekam ich häufig von ihr zu hören.
Die Frage, ob meine Mutter stattdessen von mir gepflegt werden könnte, hat sich uns nie gestellt. Schlimm genug, dass sie jetzt auf fremde Hilfe angewiesen war. Dass diese Hilfe von ihrer Tochter geleistet werden sollte, war für sie unvorstellbar und kam in ihrem Szenario für den Lebensabend nicht vor.
Ihr Tod ist inzwischen mehr als sechs Jahre her. Trotzdem denke ich oft an sie und frage mich, ob ich alles richtig gemacht habe. Hätte ich ihr vielleicht doch anbieten sollen, bei mir zu wohnen? Denn bei allem persönlichen Engagement der Menschen, die sich für eine Tätigkeit in der (Alten-)Pflege entscheiden, sind die Gestaltungsmöglichkeiten, vor allem aber die zur Verfügung stehende Zeit viel zu gering. Die Pflegekräfte müssen sich zwangsweise auf die Basics beschränken: Anziehen, waschen, Essen anreichen, Medikamente verteilen. Mit etwas Glück bleibt noch Zeit für „Ringelpietz mit Anfassen“ – kleine Spielchen, um die Seniorinnen geistig und körperlich beweglich zu halten.
Was machen wir nur mit unseren Eltern?
Die meisten Frauen in den Wechseljahren sind jetzt in einem Alter, in dem sie sich die Frage stellen, wie sie mit ihren Eltern umgehen wollen. Und in dem möglicherweise auch schon deren Tod ein Thema ist.
Sollen Mutter und Vater so lange wie möglich ihre Unabhängigkeit genießen dürfen? Was ist, wenn ein Teil pflegebedürftig wird? Wie weit entfernt wohnen die Eltern? Gibt es Geschwister, die sich ebenfalls kümmern können und wollen? Dürfen wir unseren Eltern Entscheidungen abnehmen, wenn wir das Gefühl haben, dass sie es allein nicht mehr schaffen? Denn auch, wenn sie alt und vielleicht ein bisschen „tüddelig“ geworden sind – es sind immer noch erwachsene Menschen mit einem eigenen Willen, Träumen und Vorstellungen, wie das Leben zu sein hat.
Als meine Mutter langsam vergesslicher und ich mir eingestehen musste, dass hier eine Form der Demenz vorliegt, habe ich auf einmal angefangen, sie bei meinen Besuchen zu versorgen. Statt mich mit ihr hinzusetzen, Kaffee zu trinken und zu reden habe ich ihre Wäsche zusammengesucht, das Bad geputzt, den Abwasch erledigt und den Kühlschrank aufgeräumt. Verlor irgendwie die Prioritäten aus den Augen.
Heute denke ich, dass es für uns beide viel schöner gewesen wäre, statt meiner Putzerei Zeit mit ihr zu verbringen. Sie hätte mir noch so viel erzählen können über unsere Familiengeschichte, aus ihrem Leben, bevor ich auf die Welt kam, über das, was ihr jetzt wichtig war. Ich hätte neben ihr sitzen, ihre Hand halten und einfach da sein können.
Könnte ich die Zeit noch einmal zurückdrehen wäre das eines der wenigen Dinge in meinem Leben, die ich ändern würde. Denn was für eine Bedeutung hat eine blitzende Spüle gegenüber einer Umarmung? Wen interessiert eine geputzte Toilette angesichts eines liebevollen Lächelns?
Jedes Mal, wenn ich mich nach einem Besuch von meiner Mutter verabschiedet habe, drückte sie mich, legte ihren Kopf in meine Halsbeuge und flüsterte „Schön, dass Du da bist!“. Beim Anblick der von mir zuhause gebügelten Wäsche hat sie das nie gesagt…
Prioritäten – so wichtig!
Das, was ich als Beimessungsstörung diagnostiziert hatte, nämlich den täglichen Kauf von Kuchen und Torten, die sich in unterschiedlichen Verfallsstadien befanden und im Kühlschrank langsam lebendig wurden, war nichts anderes als ein Ausdruck der Vorfreude auf meine Besuche. Schließlich wusste meine Mutter, wie gern ich Süßes esse. Und weil ihr die Tage inzwischen durcheinanderpurzelten, wurde eben häufiger das kleine Bäckergeschäft auf der Anlage besucht.
Die von mir so wahrgenommene Verschwendung von Lebensmitteln führte dazu, dass ich dort die Anweisung gab, meiner Mutter keinen Kuchen mehr zu verkaufen. Heute denke ich, dass ein paar alte Gebäckstücke noch niemanden umgebracht haben. Außerdem hätte ich ja den hart gewordenen Streuselkuchen auch eintunken können. Denn meine Mutter kochte auch mit Begeisterung sehr viel Kaffee.
Diese Versäumnisse tun mir heute leid, weil sie uns Zeit miteinander genommen haben. Das kann ich nicht mehr ändern. Meine Mutter wird trotzdem gefühlt haben, wie wichtig sie mir war.
Trotzdem wünsche ich allen Eltern, dass ihre (erwachsenen) Kinder sich für Gespräch und Umarmung entscheiden, wenn sie die Wahl haben.
Herzliche Grüße,
Deine Sabine Scholze
Über die Autorin:
Sabine Scholze ist Mentorin für Menschen in Trauer und Expertin für einen individuellen, empathischen und wertschätzenden Umgang mit Abschied und Tod. Als Trauerbegleiterin und Trauerrednerin unterstützt sie Hinterbliebene nach dem Verlust eines geliebten Lebewesens und will mit ihrer Arbeit dazu beitragen, die Themen „Abschied, Tod & Trauer“ in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Für Austausch und Unterstützung im geschützten Rahmen bist Du herzlich in Sabines private Facebook-Gruppe „Trauer darf sein!“ eingeladen.