Es war lange still um Joya. Sie hatte sich freiwillig zurück gezogen. Ihr bis dahin sehr aktives Leben bekam mit dem Tod ihres Mannes einen dunklen Mantel umgelegt. Doch heute Morgen kann sie sich endlich überwinden, nach langer Zeit an einen ihrer Lieblingsplätze zu gehen.
Kurz nach Sonnenaufgang fährt sie los. Sie stellt ihr Auto am Parkplatz ab und schlägt fröstelnd den Kragen ihrer Jacke hoch. Entschlossen stapft sie den steilen Weg hinauf bis zur kleinen Lichtung. Gleich würde sie die Brücke sehen. Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Joya lauscht in sich hinein und atmet schwer. Ist es die ungewohnte Anstrengung des Anstiegs oder das atemberaubende Morgenlicht?
Endlich ist sie da. Noch ein paar wenige Schritte und dann erkennt sie hinter der kleinen Lichtung die ersehnte Brücke. Nur schwerlich kann sie die andere Seite erkennen. Der Nebel hängt noch tief über dem Tal.
Da ist ein Land der Lebenden und ein Land des Todes, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe…
Joya erschrickt. Dass ihr ausgerechnet jetzt der Trauer-Spruch für ihren Mann einfällt, verunsichert sie.
Eigentlich war sie heute Morgen aufgebrochen, um an ihrem Lieblingsplatz endlich wieder einen neuen Archetypen-Artikel für Lemondays zu schreiben.
„Papperlapapp“ ermahnt sie ihren inneren Denker. „Ich bin nicht hier um zu trauern, ich bin hier um über die wundervolle Archetypin Die Brückenbauerin zu schreiben!“
Joya atmet tief durch und zieht langsam ihre Schuhe und Socken aus. Das taufeuchte Gras kitzelt ihre Fußsohlen und erfrischt mehr als ihr gerade lieb ist. Doch lächelnd nimmt sie ihre Schuhe in die Hand und grinst in sich hinein über den doppelsinnigen Gedanken „Jetzt bekomme ich kalte Füße!“
Und dann tut sie das, was sie immer tat an diesem magischen Ort. Sie stapft mutig los und hinterlässt mit jedem Schritt erst kleine Abdrücke im Gras und dann ihre feuchten Fußspuren auf der Brücke aus weichem Holz. Wie jedes Mal wenn sie hier war fragt sie sich für einen Moment, ob ihre Fußabdrücke bis zum andern Ende der Brücke reichen würden. Und dann spürt sie sich hinein, in die faszinierende Archetypin „Die Brückenbauerin“
Bist auch DU eine Brückenbauerin? Und was genau macht diese Archetypin aus? Wo finden wir sie?
Ich glaube, dass wir überall und zu jedem Moment Brückenbauerin sein können und auch sein sollten. Denn in unserer aktuellen Zeit gibt es so viele „Baustellen“ für die eine Überwindung von mehr oder weniger hohen Gräben dringend erforderlich sind.
Lass uns mal in unseren Alltag schauen.
Da sind die vielen JournalistInnen, PolitikerInnen, LehrerInnen, ÄrztInnen… und all die Menschen, die Informationen bündeln und weitertragen, die lehren und erklären und zwischen den unzähligen mehr oder weniger verhärten Fronten vernetzen und vermitteln.
Da sind die vielen Frauen und Männer, die Brücken in der Familie, im Kollegen- oder Freundeskreis bauen. Brücken, die überwinden und verbinden.
Was sind ihre wertvollsten Qualitäten und wie können wir diese Archetypin in uns vertiefen und nähren?
Vielleicht finden wir bei Joya eine Antwort. Sie ist ihren Weg über die Brücke noch nicht weiter gegangen, sondern beobachtet ihre Gedanken:
Sie hat sich daran erinnert, dass es für eine Brückenbauerin viel wichtiger ist, achtsam innezuhalten und jeden Schritt auf die andere Seite behutsam zu gehen und zu lauschen, was auf der anderen Seite passiert. Ist ihr Ankommen dort drüben gewollt?
Sie hat sich daran erinnert, dass es für eine Brückenbauerin viel wichtiger ist, dem anderen erst aufmerksam zuzuhören und abzuwägen, ob in diesem Moment eine Antwort oder eher ein Hinhören gefragt ist.
Sie hat sich daran erinnert, nicht pseudo-mutig loszustürmen oder sogar vor Angst und Erschrecken zu stoppen oder gar umzukehren, sondern genau zu beobachten, was da noch ist, wenn sie sich nicht von ihren eigenen Kopfgeschichten steuern lässt.
Sie hat sich daran erinnert, nicht wie so oft aus ihrer gewohnt bekannten Gedankenspirale heraus zu handeln, sondern zu erkennen, dass sich jeder Moment ganz anders entwickeln kann, wenn man ihm einfach nur den Raum dafür gibt.
Woran erkennt man eine gute Brückenbauerin?
Brückenbauerinnen sind außergewöhnlich achtsam und verständnisvoll. Sie denken nicht in Schubladen. UND: Sie polarisieren nicht.
Sie erkennen, dass alles im Leben auf irgendeine Art und Weise miteinander verbunden ist.
Sie haben einen unverwechselbaren Blick auf Details und erfassen gleichzeitig das „große Ganze“.
Brückenbauerinnen sind Entdeckerinnen und Bewahrerinnen gleichermaßen.
Sie haben ein gutes Gespür für das Sichtbare und das Unsichtbare.
Sie betreten gerne Neuland und pflegen gleichzeitig uralte Werte wie Zivilcourage, Toleranz, Ehrlichkeit, Treue, Mitgefühl, Offenheit und Nächstenliebe.
Wie handelt eine gute Brückenbauerin?
Sie prüft immer wieder, wie stabil ihr eigenes Fundament ist und wägt dabei ihren eigenen Nutzen und eine allumfassende Nachhaltigkeit achtsam ab.
Sie gibt gerne Hilfestellung – und befreit sich von Erwartungshaltungen.
Sie achtet gut auf sich selbst – ohne dabei die anderen zu übersehen.
Sie weiß genau um ein stabiles Gleichgewicht zwischen geben und nehmen, halten und loslassen.
Joya besinnt sich auf all diese Attribute und dann geht sie achtsam über die Brücke. Mit jedem Schritt macht sie sich bewusst, dass es Zeit ist, wieder Brückenbauerin zu sein. Den Raum der Traurigkeit hinter sich zu lassen und Platz zu schaffen für all das, was da noch ist.
Achtsam setzt sie einen Fuß vor den anderen. Mit jedem Schritt begrüßt sie ihre eigene innere Brückenbauerin. Langsam und doch zielgerichtet erreicht sie die andere Seite der Brücke.
Zufrieden nimmt sie Platz auf der kleinen Bank und klappt mit einer Hand ihren Kragen nach unten, mit der anderen Hand ihr Notizbuch auf und beginnt zu schreiben.
„Da ist ein Land der Freude und ein Land der Trauer, und die Brücke zwischen ihnen ist das Leben.“
Ich wünsche Dir eine starke Brückenbauerin in Dir. WEIL DU WICHTIG BIST!
Herzlichst,
Deine Silke