Mir klingt es ab und zu in den Ohren, wie meine Mutter mit mir als Kind in diesem harschen Ton gesprochen hat, wenn ich geweint habe, weil ich mir weh getan habe, oder die Matheaufgabe partout nicht lösen konnte oder eine tote Katze im Garten fand:
„Stell dich nicht so an! Da musst Du doch nicht heulen! Du bist eine Heulsuse! Das ist doch nicht schlimm. Reiß Dich zusammen. Da geht die Welt nicht von unter. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Was Dich nicht umbringt, macht Dich härter.“
Wahrscheinlich hast Du solche Sätze auch schon gehört von Eltern, Lehrern, Freunden, Chefs, Kollegen, usw.
Und diese Sätze kommen besonders dann in mein Bewusstsein, wenn meine Tochter weint, wenn sie Schmerzen hat oder ihr etwas nah geht. Dann erwische ich mich manchmal, wie ich innerlich hart werde, sie zurechtweise und ihr Weinen mit einem rauhen „Ist doch nicht so schlimm!“ stoppen möchte. Und vielleicht kennst Du das auch.
Warum machen wir das? Warum haben wir solche Probleme verletzlich zu sein?
Verletzlichkeit macht uns angreifbar, es tut weh, es kann Schmerzen und Gefühle von Traurigkeit, Angst, Zweifel, Ohnmacht und Minderwertigkeit hervorrufen. Und klar, wir wollen uns lieber gut fühlen, stark und unverletzbar. Wir möchten lieber alles unter Kontrolle haben, als uns scheinbar ausgeliefert und machtlos zu fühlen.
Auch ich glaubte lange, dass Verletzlichkeit eine Schwäche sei. Glücklicherweise belehrte mich das Leben eines Besseren.
Das Eingestehen meiner eigenen Verletzlichkeit in den Wechseljahren, führte dazu, dass ich ganz bewusst darauf achtete, meine negativen Gefühle weder zu unterdrücken noch zu verbergen. Ich sagte zu mir: „Ja, ich möchte verletzlich sein, auch wenn ich dabei das Risiko eingehe, enttäuscht oder abgelehnt zu werden.
„Ich entscheide mich ganz bewusst für dieses authentische Leben voller Höhen und Tiefen.“
Als ich begann, meine Minderwertigkeitsgefühle, meine Selbstzweifel sowie meine Verletzlichkeit nach außen zu tragen, bekam ich wertvolle Feedbacks von Frauen in den Wechseljahren, denen es ähnlich ging wie mir.
Es schulte mein Selbst-Mitgefühl und meine Empathie für Frauen und ihre Herausforderungen in den Wechseljahren.
Warum es gut ist, verletzlich zu sein
- Verletzlichkeit fördert unser Selbst-Mitgefühl und Empathie. Wenn wir uns mit allem zeigen und annehmen, auch mit unserer Trauer und unseren Ängsten, etc., können wir auch anderen den Raum geben, sich verletzlich zu zeigen.
- Verletzlichkeit ist die Bereitschaft, aufrichtig zu sich selbst zu sein. Nur so ist es möglich, ein authentisches Leben zu führen.
- Verletzlichkeit bedeutet, seine Sehnsüchte und Wünsche trotz der Angst vor Enttäuschung oder Kränkung zu verfolgen. Das Risiko, verletzt zu werden, einzugehen und im Gegenzug dazu die Chance auf Erfüllung im Leben zu erhalten.
- Verletzlichkeit bedeutet auch, offen mitzuteilen, wenn etwas einen verletzt hat. Den Schmerz also nicht in sich hineinzufressen. Durch das Ausdrücken der Gefühle kann der Schmerz entweichen und innere Blockaden können sich lösen.
- Verletzlichkeit macht nahbar und fördert gute und tiefe Beziehungen. Ehrlichkeit und Offenheit schaffen Nähe und Vertrauen in Beziehungen.
Verletzlich zu sein ist eine Stärke
Sich verletzlich zu zeigen ist ein Risiko. Aber wenn wir dieses Risiko nicht eingehen, dann bleiben uns viele wunderbare Chancen im Leben verwehrt. Diejenige, die sich einer Situation aussetzt, in der sie verletzt werden könnte, zeigt Mut. Beispielsweise, wenn sie sich ehrlich mit allen schmerzhaften Herausforderungen zeigt oder wenn sie anderen gegenüber eingesteht, dass sie Hilfe braucht.
Und bitte verstehe mich nicht falsch, mit Verletzlichkeit meine ich nicht, dass frau ins „Opfer“ geht, in Hilflosigkeit versinkt und sich dem Schicksal ergibt. Ich verstehe darunter die Bereitschaft, aufrichtig zu sich selbst zu stehen und zu wagen, sich offen zu zeigen – auch mit seinen Schattenseiten.
Verletzlich zu leben bedeutet keineswegs, sich völlig schutzlos dem rauhen Leben auszusetzen. Vielmehr geht es darum, den Mut zu haben, sich dort zu zeigen, wo wir mit Berechtigung hoffen können, mit unseren Gefühlen angenommen zu werden.
„Ich sehe Verletzlichkeit als eine Stärke, die uns manchmal zwar voller Wucht auf den Boden knallt, aber uns oftmals auch die glücklichsten Momente unseres Lebens beschert“.
Yin Yoga – Raum für Verletzlichkeit
Vor einigen Jahren lernte ich das Yin Yoga in meiner Ausbildung zur Yin Yoga Lehrerin kennen und lieben.
Ich spürte direkt, dass diese Yogaform etwas ganz Wichtiges und Wertvolles in unserer heutigen Zeit darstellt, die sehr aktiv, fordernd und reizüberflutend ist und die wenig Raum lässt für leise, zarte und verletzliche Töne.
Das Prinzip von Yin und Yang entspringt der asiatischen Kultur und beschreibt das ewige Wechselspiel zwischen männlich und weiblich.
Dem weiblichen Yin-Prinzip werden Weichheit, Entspannung, Hingabe, Annahme, Tiefe, Intuition, Gefühle, Langsamkeit, Ruhe, Kreativität und Innen zugeordnet.
Yin ist schöpferisch, Leben gebärend, aufnehmend, umwandelnd und heilend.
Die weibliche Energie ist überfließende Liebe, Hingabe, sie ist empfänglich und passiv.
Die Yin Yoga Praxis fördert die Verbindung mit Deinen Yin-Anteilen, denn sie helfen Dir gerade in der „heißen“ Lebensmitte, Deine Gefühle zu spüren und anzunehmen, Raum für Deine verletzliche Seite zu schaffen und Dich den Veränderungsprozessen hinzugeben.
Mein Eindruck ist, dass es an der Zeit ist, dass wir Frauen den Yin-Aspekten, unserer zarten und verletzlichen Seite wieder mehr Zuwendung geben, uns der weiblichen Qualitäten in uns besinnen, um dadurch wieder Zugang zu unserer weiblichen Lebendigkeit, Stärke und Zartheit zu bekommen. Die Welt und unsere Erde braucht starke Frauen, die gleichzeitig mitfühlend, achtsam und authentisch sind!
Was ist Yin Yoga?
Yin Yoga ist eine meditative und reflexive Yoga-Praxis, die auf im Sitzen beziehungsweise Liegen praktizierten Asanas (Yoga Übungen) basiert, die für längere Zeit gehalten werden. Das Konzept des Yin Yogas besteht aus Haltungen, die vom traditionellen Hatha Yoga abgeleitet und mit verschiedenen Einflüssen aus dem indischen Yoga, dem chinesischen Taoismus und Erkenntnissen aus der westlichen Wissenschaft über den Körperbau und die Funktion der inneren Organe ergänzt wurden.
Besonderheiten und Wirkung von Yin Yoga
Yin Yoga ist eine meditative Annäherung an unser Innenleben mit gleichzeitigem Fokus auf die eigene Anatomie. In der Yin-Yoga-Praxis schaut man ganz intensiv in sich hinein, man gibt sich seinen Emotionen hin, wodurch man viel über sich selbst lernen kann. Die Asanas werden zwar in einer für den Körper relativ komfortablen Position gehalten, allerdings kann das lange Halten, in der Regel zwischen drei bis fünfzehn Minuten, durchaus für viele Yogaschülerinnen zu einer körperlichen Herausforderung werden.
Man sollte dabei immer gut auf seinen Körper hören und nicht von Anfang an über die eigenen Grenzen gehen. Es ist, wie Stück für Stück in die Haltung zu sinken. Und während wir uns der Übung hingeben, können wir den Körper erkunden und erspüren. Wir können all unseren Gefühlen, auch den zarten und verletzlichen Raum geben.
Dabei ist es wichtig, eine Achtsamkeit zu entwickeln und das „Hier und Jetzt” mehr zu spüren und sich dadurch seiner selbst bewusster zu werden, ohne gedanklich in der Vergangenheit oder der Zukunft zu sein.
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Yin Yoga in den Wechseljahren
Das Yin Yoga ist für Frauen in den Wechseljahren hervorragend geeignet, denn auf psychischer Ebene wirkt Yin Yoga ähnlich wie stille Meditationen: Während der lang gehaltenen Körperhaltungen kommt der Geist zur Ruhe und man lenkt die Aufmerksamkeit verstärkt auf sich und seinen Körper. Die liebevolle Zuwendung zu allem, was auftaucht, kann zu einem ausgeglichenen Geist und innerer Ruhe führen und das ist in den Wechseljahren, in der es manchmal turbulent zugeht, besonders wichtig.
In den Wechseljahren sind einige Frauen nicht mehr so belastbar – das hat mit dem Abfall unseres „Chill“-Hormons Progesteron zu tun – und häufig gestresst, weil sie schlecht schlafen und durch andere Beschwerden belastet sind. Yin Yoga eignet sich sehr gut, um Stress abzubauen und vorzubeugen. Dies bestätigt auch eine Studie von 2017, in der die Probandinnen an einem fünfwöchigen Programm mit Yin Yoga und Achtsamkeitsübungen teilnahmen.
Viele Frauen klagen in der Zeit der hormonellen Umstellung auch über Stimmungsschwankungen, Dünnhäutigkeit, Gereiztheit, Ängste und depressive Verstimmungen. Laut einer Studie von 2018 hilft Yin Yoga auch bei psychischen Problemen, wie Angstzuständen, Stress und Depression.
Im Video zeige ich Dir ein Yin Yoga Programm, um es einmal praktisch zu erfahren:
Ja, es erfordert Mut, uns unseren wahren Gefühlen auszusetzen, auch Gefühlen der Verletzlichkeit oder Traurigkeit, denn es kann beängstigend und unangenehm sein, aber gerade dadurch schaffen wir Offenheit, das Miteinander-Teilen und Nähe, nach denen wir uns doch gerade in den Wechseljahren sehnen.
Deine Aloka Wunderwald
Foto: Pixabay